Überlebensgroße Figuren empfangen die Besucher_innen in der Ausstellung „Gallipoli – The Scale of our War“ im Museum „Te Papa“ in Neuseeland. In ihr erfahren die Museumsgäste, wie der Erste Weltkrieg das Leben von acht Personen aus Neuseeland prägte. Vom Soldaten bis zur Krankenschwester – die Skulpturen verweisen auf historische Schicksale, zu denen die Besucher_innen über Lautsprecher Auszüge aus persönlichen Briefen oder Tagebüchern hören, ergänzt durch emotionale Musik.
Der Besuch dieser Ausstellung war für den Oldenburger Museumswissenschaftler Christopher Sommer zu seinem Postdoc-Projekt „Der gezähmte Krieg“, für das er inzwischen 20 militärhistorische Ausstellungen in Deutschland, England, Schottland und Neuseeland untersucht hat. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie Exponate in besonderen Maßstäben präsentieren: auf der einen Seite Großexponate wie Militärflugzeuge oder Panzer, auf der anderen Seite Dioramen – dreidimensionale Darstellungen historischer Szenen, oft in sehr verkleinerter Form.
„Viele dieser Ausstellungen zeigen den Krieg sehr anschaulich“, erläutert Sommer. „Doch gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass Museumsausstellungen immer nur Rekonstruktionen der Vergangenheit zeigen – nie die Vergangenheit selbst. Sie sind also Simulationen einer historischen Realität, die so nie stattgefunden hat und ähneln damit künstlerischen Installationen oder Performances.“ Inwiefern Museumsbesucher_innen sich dessen bewusst sind, ist eine Frage, die er mit seiner Forschung beantworten will. Darüber hinaus möchte er auch mehr über die emotionalen Reaktionen der Besucher_innen auf Dioramen und Großexponate herausfinden: Inwiefern empfinden die Besucher_innen sie als überwältigend, beeindruckend oder sogar ästhetisch?
Über hundert Personen möchte Sommer für sein Projekt interviewen. Neben Besucher_innen befragt er auch Modellbauer_innen und Kurator_innen, um die Wahrnehmungen des Museumspublikums mit den Absichten der Museumsmacher_innen zu vergleichen. Seine Arbeit wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt. Aktuell laufen seine Befragungen noch, doch erste Ergebnisse gibt es bereits.

Foto: Zinnfiguren-Museum Goslar
„Unaufrichtige Neutralität“: vom Unterschied zwischen Ausstellung und Realität
Anders als Texttafeln, Statistiken oder Schwarzweiß-Fotos vermitteln Dioramen ein sehr konkretes Bild der Vergangenheit. „Viele Museen verfolgen auch genau diese Absicht: Sie wollen ihre Besucher_innen nicht nur informieren oder allein auf der Ebene des Verstandes ansprechen. Ihnen geht es auch darum, ihre Gäste emotional zu erreichen“, sagt Sommer. Doch jede museale Darstellungsform bringt ihre eigenen Herausforderungen mit sich. Bietet man lediglich abstrakte Informationen, ist die Vergangenheit für viele schwer greifbar. Wird die Darstellung zu konkret, verschwimmt aber möglicherweise für manche die Grenze zwischen Ausstellung und Realität. „Unaufrichtige Neutralität“ nennt das die Museumswissenschaftlerin Mélanie Boucher, auf die sich Sommer in seiner Arbeit bezieht. Sommer erläutert: „Selbstverständlich arbeiten Museen auf der Grundlage von historischen Quellen. Doch alleine schon welche Quellen sie auswählen und welche Informationen sie weglassen, prägt das Bild der Vergangenheit, das sie vermitteln.“
Erste Befragungen, die Sommer durchgeführt hat, deuten aber darauf hin, dass Dioramen dem Museumspublikum Spielräume für eigene Interpretationen und Assoziationen lassen. Sommer sprach etwa mit Besucher_innen im Zinnfiguren-Museum Goslar, das Dioramen von Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges präsentiert. Dabei stellte er fest, dass viele von ihnen Parallelen zu aktuellen Ereignissen wie dem Krieg in der Ukraine ziehen. „Sie sehen die Dioramen also weniger als historische Repräsentationen, sondern nehmen sie als Grundlage für eigene Reflexionen“, schlussfolgert Sommer.

Foto: Deutsches Panzermuseum Munster
„Wer den Frieden will, der rede vom Krieg.“
Befragungen von Museumsmacher_innen und Besucher_innen führte Sommer auch im Deutschen Panzermuseum Munster durch. Es zeigt vor allem deutsche Panzer und Fahrzeuge aus dem Zeitraum von 1918 bis heute. Dazu gehört beispielsweise auch ein Nachbau des sogenannten „Tiger“ – ein Panzer, der von der nationalsozialistischen Propaganda mythisch überhöht worden ist. Über Texttafeln und Audioguides liefert das Museum einordnende Informationen – etwa, dass die Laufrollen des Panzers in Zwangsarbeit hergestellt worden sind.
Dass Besucher_innen diese Hintergrundinformationen ausblenden und die ausgestellten Panzer bewundernd statt mit kritischer Distanz betrachten, lässt sich aus Sommers Sicht dennoch nicht vollständig verhindern. Wie genau diese überwältigende Wirkung von Kriegsobjekten entsteht und was Museen ihr entgegensetzen können, ist daher eine Frage, die er mit seiner Forschung beantworten will. Dass Museen ihren eigenen Simulationscharakter offenlegen und ihre Besucher_innen zu Reflexion und einladen, sei aber in einer demokratischen Gesellschaft auf jeden Fall essenziell. „Wer den Frieden will, der rede vom Krieg“, zitiert Sommer Walter Benjamin – ein Zitat, das übrigens auch am Eingang des Deutschen Panzermuseums Munster steht.