Der nächste Arzt ist weit entfernt, zur Volkshochschule muss man in die Stadt fahren. Vereine verlieren Mitglieder, und auch die freiwillige Feuerwehr kann viele Einsätze nicht mehr übernehmen. So oder so ähnlich sieht es in vielen ländlichen Gebieten in Deutschland aus. Nicht nur zahlreiche ostdeutsche Regionen, auch zum Beispiel der niedersächsische Landkreis Wesermarsch kämpft mit Abwanderung.
Auf der Suche nach Lösungen für diese Herausforderungen richtet ein Team von Wissenschaftler_innen den Blick auf andere europäische Länder – im Projekt „Innovative Ansätze der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen – lernen von Erfahrungen anderer Länder für Deutschland“, kurz InDaLE. Beteiligt sind Forschende der Universitäten Hannover, Dresden und Oldenburg, der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft in Hannover und des Johann Heinrich von Thünen-Instituts in Braunschweig. Sie wollen wissen: Wie gehen andere Länder damit um, dass es auf dem Land weniger Ärzt_innen und Pflegeangebote gibt? Wie arbeitet die freiwillige Feuerwehr in entlegenen Gegenden? Und wie können sich Menschen dort weiterbilden, ohne die vielfältigen Bildungsangebote, wie es sie in Großstädten gibt? Um diese Fragen zu beantworten, untersuchen sie innovative Projekte in Schottland, Schweden und Österreich. Ihre Eindrücke und Ergebnisse teilen sie anschließend mit Expert_innen zur ländlichen Entwicklung in Deutschland. Mit ihnen diskutieren sie darüber, welche Ansätze sich auf Deutschland übertragen lassen.

Foto: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (https://www.bbsr.bund.de/)
Land: mehr als Landwirtschaft, Bildung: mehr als Uni
An der Universität Oldenburg beschäftigen sich der Geograph und Regionalforscher Prof. Dr. Ingo Mose und Nathalie Tent, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt, mit nachschulischer Bildung auf dem Land. Mose und Tent untersuchen zum Beispiel Studienangebote für Menschen, die in Nordschweden fernab der nächsten Universität leben. Daneben nehmen sie auch andere, weniger formelle Bildungsangebote in den Blick, zum Beispiel Workshops und Beratung für alle, die auf dem Land ein Unternehmen gründen. „In vielen ländlichen Räumen gibt es heute vielfältige Berufschancen – aber die Menschen müssen sie auch sehen und für sie qualifiziert sein“, sagt Mose.
Die Entwicklung ländlicher Räume ist einer seiner Forschungsschwerpunkte. Dabei plädiert er immer wieder dafür, nicht alle Gegenden über einen Kamm zu scheren. „Bis in die 1950er Jahre waren die meisten ländlichen Räume in Deutschland einander noch sehr ähnlich“, erläutert er. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts arbeitete damals in der Bundesrepublik knapp ein Viertel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, 2017 waren es nur noch 1,4 Prozent. In der Zwischenzeit entwickelten sich die Regionen in sehr unterschiedliche Richtungen: Während sich in manchen mittelständische Unternehmen ansiedelten, profitierten andere vom Tourismus. Wieder andere konnten wenige oder keine wirtschaftlichen Alternativen entwickeln und mussten erleben, dass gerade jüngere Leute aus der Region wegzogen. „Diese Abwanderung hat auch mit fehlenden Bildungsangeboten zu tun“, sagt Mose. Bildungsinstitutionen – nicht nur Universitäten, sondern im weiteren Sinne auch Volkshochschulen oder Museen – gelten als Standortfaktor, sind aber auf dem Land oft rar gesät. Dazu kommt, dass Bildung für viele nicht mit dem ersten Studien- oder Ausbildungsabschluss aufhört. Fortbildungen, Umschulungen oder ein Zweitstudium gehören inzwischen zu vielen Lebensläufen dazu. Auch dafür gibt es auf dem Land oftmals weniger Möglichkeiten.

Foto: Patrick Küpper, Abgrenzung und Typisierung ländlicher Räume (Thünen Working Paper 68), Braunschweig 2016, S. 26.
Nordschweden: Studieren fernab der Uni
Vor solchen Herausforderungen stehen andere Länder schon länger, zum Beispiel Schottland und Schweden. Aus diesen beiden Ländern untersuchen Mose und Tent insgesamt vier innovative Bildungsprojekte. Aktuell spricht Tent mit Projektmitarbeiter_innen und -absolvent_innen sowie schottischen und schwedischen Expert_innen zur ländlichen Raumentwicklung. Sie will unter anderem wissen, was die Projekte erfolgreich macht und wie sie sich auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt der Region auswirken.
Ende 2021 reiste Tent nach Nordschweden, um die „Akademi Norr“ genauer kennenzulernen, ein gemeinsames Projekt von 13 nordschwedischen Kommunen. Es richtet sich an alle, die sich aus- oder weiterbilden möchten, aber teilweise mehrere hundert Kilometer von der nächsten Universität entfernt wohnen. Für sie bietet die Akademi eine Rundumbetreuung: Mitarbeiter_innen beraten potenzielle Studierende dazu, welche Qualifikationen in der Region besonders gefragt sind. Wer sich dann für einen Studiengang einschreibt, besucht Online-Veranstaltungen an einer Universität, tauscht sich aber auch mit anderen nordschwedischen Studierenden in Lernzentren aus. Zusätzlich hilft die Akademi den Studierenden beispielsweise dabei, geeignete Praktikumsplätze zu finden. Auch Fortbildungen bietet sie an.
Tent überzeugt nicht nur, wie hier digitale Angebote und Präsenzlernen miteinander verbunden werden. „Wichtig ist auch der regionale Fokus“, sagt sie. Denn die Akademi bietet besonders Studiengänge und Weiterbildungen an, die vor Ort gefragt sind, zum Beispiel für Soziale Arbeit oder das Lehramt. „Viele junge Menschen würden gerne in der Region bleiben, kennen aber kaum andere Berufe als die ihrer Eltern“, erläutert Tent. Ihnen möchte die Akademi Perspektiven aufzeigen – ebenso wie Zugezogenen. Denn wer hier einen Arbeitsplatz in der florierenden Stahlindustrie oder der Batterieproduktion annimmt, bringt oft einen Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin mit. Ihnen kann die Akademi helfen, sich für den regionalen Arbeitsmarkt zu qualifizieren.

Foto: istock.com/BeyondImages
Schottland: Gründen lernen
Das Problem, mit der eigenen Ausbildung keine Anstellung zu finden, kennen auch viele Menschen in den ländlichen Gebieten Schottlands. Einige von ihnen lösen es, indem sie sich selbstständig machen. Ihnen hilft das Projekt „GrowBiz“, das Tent ebenfalls untersucht. Hier können sich angehende Unternehmer_innen beispielsweise zu Steuerfragen informieren, bei Infotreffen mehr über Social-Media-Strategien lernen oder von Mentor_innen auf ihrem Weg begleiten lassen.
Ähnliche Beratungsangebote gibt es selbstverständlich auch in den Städten. „Das Besondere an GrowBiz ist aber, dass die Beratung an Kleinstunternehmen angepasst ist. Denn von ihnen gibt es auf dem Land besonders viele“, bemerkt Tent. Viele der Klient_innen von GrowBiz sind Soloselbständige, die beispielsweise kleine Pensionen betreiben oder eigene Kunst verkaufen. Was in einem Unternehmen auf viele Abteilungen aufgeteilt ist, müssen sie alleine stemmen. GrowBiz hilft ihnen nicht nur mit Beratungsangeboten, sondern auch mit einem Netzwerk. „Das Projekt zeigt, wie viel Innovation es auf dem Land geben kann, wenn Bildungsangebote zu Gründungsfragen auf die Region angepasst sind“, resümiert Tent.
Zusammenhalt statt Kirchturmdenken
Die ausländischen Projekte werden Mose und Tent später mit deutschen Projekten zur nachschulischen Bildung vergleichen. In Workshops möchten sie anschließend mit Politiker_innen und Expert_innen aus der deutschen Regionalentwicklung darüber diskutieren, was sich von den schottischen und schwedischen Ansätzen auf Deutschland übertragen ließe. Ein vorläufiges Fazit kann Tent nach ihrem Besuch in Schweden schon ziehen. „Was mich beeindruckt hat, ist der Zusammenhalt unter den schwedischen Kommunen“, sagt sie. Alle kämpfen mit Abwanderung, alle konkurrieren um Arbeitskräfte. Trotzdem arbeiten sie gemeinsam an Lösungen. Diese Mentalität wünscht sich Tent auch verstärkt für die deutschen Kommunen. „Oft wird vergessen, dass sich die Probleme von Regionen nur gemeinsam lösen lassen“, sagt sie.