Herr Hannemann, wie kommt es, dass Sie sich gerade mit okkulten Zeitschriften beschäftigen?
Dass ich die Zeitschriften untersuche, ist Teil meiner Arbeit zu außerkirchlicher Religiosität in den 1950er Jahren. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass es dazu nicht viel zu erforschen gibt. Immerhin waren in der Bundesrepublik über 95 Prozent der Bevölkerung Mitglied in der evangelischen oder katholischen Kirche. Wenn man aber genauer hinschaut, findet man auch zu dieser Zeit religiöse Strömungen jenseits der Kirchen. Ein Schlüsselmoment für mich war, als ich bei einer Konferenz im Jahr 2017 die sogenannte Esoterik-Bibliothek der Theologischen Fakultät in Halle/Saale entdeckte. Ich war überrascht, wie vielfältig die okkulte Szene in der Nachkriegszeit war und wie viele Quellen es hierzu gab. Dazu wollte ich mehr wissen – und so fing ich an, unter anderem über den damaligen angeblichen „Wunderheiler“ Bruno Gröning und okkulte Zeitschriften zu forschen.
Die Quellen: 12 Jahrgänge, 144 Ausgaben, über 4000 Seiten
Wie haben Sie die Zeitschriften analysiert?
In Bibliotheken in Frankfurt/Main und Göttingen habe ich mir alle Hefte der damals größten okkulten Zeitschrift besorgt. Sie erschien monatlich, zuerst 1949 unter dem Titel „Okkulte Welt“, der sich später in „Okkulte Stimme“ und „Die andere Welt“ änderte. Ich untersuchte alle Ausgaben von 1949 bis 1960 – also insgesamt 144 Hefte mit jeweils etwa 30 bis 40 Seiten. Dabei verschaffte ich mir einen Überblick über die unterschiedlichen Themen. Außerdem recherchierte ich, aus welchem Umfeld die Autor_innen kamen, wo sie sonst aktiv waren und in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Um mir ein Bild von den Leser_innen zu machen, analysierte ich Leserbriefe und den Anzeigenteil der Zeitschriften.
Um welche Themen ging es in den Zeitschriften?
Zum Beispiel um zeitgenössische Phänomene, die die Autor_innen erklären wollten. Sie berichteten etwa über Bruno Gröning, der Menschen per Handauflegen oder auch vom Balkon aus mit einem sogenannten Heilstrom von ihren Krankheiten kurieren wollte. Oder über Mirin Dajo, der seinen Oberkörper ohne sichtbare Schmerzen und ohne Blutvergießen mit spitzen Instrumenten durchbohren ließ. Die Autor_innen sahen solche Beispiele als Beweis dafür, dass der Mensch mittels übersinnlicher Kräfte seinen Körper beherrschen kann. In anderen Artikeln teilten zum Beispiel Seher_innen ihre Visionen, oder Autor_innen gaben Anleitungen, wie man das Schicksal eines Menschen aus dessen Handlinien ablesen kann. All diese Texte haben gemeinsam, dass sie sich mit Dingen beschäftigen, die aus Sicht der Autor_innen im Verborgenen liegen. Denn „okkult“ bedeutet dem Wortsinn nach nichts anderes als „verborgen“ oder „geheim“. Ein weiterer Gedanke, der sich durch viele Artikel zieht, ist, dass der Mensch Fähigkeiten entwickeln kann, um zu diesen geheimen Dingen vorzustoßen. Das ist eine Grundannahme des Okkultismus, der sich im 19. Jahrhundert in der Auseinandersetzung zwischen Naturwissenschaft und Religion entwickelt hat.

Foto: Titelseite der Zeitschrift „Die andere Welt“, Ausgabe 4 (1959), erschienen im Hermann Bauer-Verlag.
Wer hat die Artikel geschrieben?
Eine Reihe fester Mitarbeiter_innen kam aus dem Umfeld der Fraternitas Saturni, einer Berliner Magierloge. Daneben wurden freie Autor_innen aus unterschiedlichen Richtungen, zum Beispiel Seher_innen oder Parapsycholog_innen, engagiert. Von ihnen kamen einige aus Unterstützerkreisen rund um Bruno Gröning.
Und wer waren die Leser_innen?
Das ist im Nachhinein schwer zu rekonstruieren. Um die Frage zu beantworten, habe ich Leserbriefe in den Zeitschriften untersucht. Einige Leser_innen stellen sich beispielsweise als Lehrer_innen vor. Manchmal schreiben auch esoterische Vereine und schicken Gruppenfotos mit. Die Kleidung und das Auftreten der Mitglieder lassen darauf schließen, dass es sich um ein gutbürgerliches Publikum handelte.
Die Rezeption: interessierte Öffentlichkeit, distanzierte Kirchen
Wie ist es dazu gekommen, dass okkulte Themen in der Mitte der Gesellschaft Anklang fanden?
Viele okkulte Vereinigungen waren während der Zeit des Nationalsozialismus entweder verboten oder sind streng überwacht worden. Dadurch konnten sie nach dem Krieg einen Vertrauensvorschuss ausspielen. Darüber hinaus boten manche Okkultisten Interpretationen des Nationalsozialismus an, die die Bevölkerung entlasteten, etwa dass die politischen Eliten Dämonen oder Schwarzmagier gewesen seien. Die Schuld der Bevölkerung wurde so heruntergespielt, sie wurde zum unschuldigen Opfer finsterer Mächte.
Waren die Autor_innen der Zeitschrift tatsächlich durch die Nazis verfolgt worden?
Für einige mag das zutreffen, andere hatten enge Verbindungen zu den Nationalsozialisten. Zum Beispiel Karl Lorenz Mesch, der Himmler Yoga nahegebracht hatte. Es gibt auch mache Autor_innen, bei denen die Sachlage nicht eindeutig ist. So schreibt etwa Karl Spiesberger über Runengymnastik – das waren Körperübungen, die dem Yoga ähnelten, aber germanischen Runen nachgebildet waren. Heute findet die Runengymnastik vor allem unter Neonazis Anklang. Damals war sie nicht so leicht einzuordnen. Spiesberger selbst stand dem Nationalsozialismus distanziert gegenüber.
Wie haben die Kirchen auf okkulte Strömungen reagiert?
Distanziert. Der Okkultismus war nicht nur Konkurrenz, er passte auch schwer zur damaligen Universitätstheologie. Zu der Zeit veröffentlicht etwa der evangelische Theologe Rudolf Bultmann seine Schriften zur Entmythologisierung, in denen er dafür plädierte, Erzählungen von Wundern und anderen übersinnlichen Phänomenen in der Bibel nicht wörtlich zu nehmen. Während die Kirche den Okkultismus eher misstrauisch beäugte, hätten sich viele Anhänger_innen okkulter Strömungen durchaus als Christ_innen gesehen. In den Zeitschriften finden sich zum Beispiel Berichte über die wundersame Wirkung von Gebeten oder spirituelle Interpretationen von Bibeltexten.
Die Analyse: Religiosität wird individuell
Die Leser_innen verbanden also christliches und außerchristliches Gedankengut?
Nicht nur die Leser_innen. Auch in den Zeitschriften selbst stehen unterschiedliche religiöse und okkulte Strömungen nebeneinander. Das ist das Besondere an ihnen. Bereits vor dem Krieg hatte es Zeitschriften einzelner okkulter Vereinigungen gegeben. Aber hier passiert es zum ersten Mal, dass unterschiedliche Strömungen in der gleichen Zeitschrift zu Wort kommen und die Leser_innen sich darüber austauschen.
Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?
Dass Gläubige die Dogmen ihrer Kirche nicht eins zu eins übernehmen, ist nichts Ungewöhnliches. Das hat es in der Religionsgeschichte schon immer gegeben. Aber lange hätte sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung selbstverständlich als Christ_innen bezeichnet. Das ist heute anders. Viele Menschen ordnen sich nicht mehr eindeutig einer Religion zu, sondern verbinden in ihrem Weltbild Aspekte unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen. Ich sehe die 1950er Jahre als ein Jahrzehnt des Übergangs, in dem sich diese neue Perspektive langsam herausbildete. Die Zeitschriften sind ein gutes Beispiel dafür, wie verschiedene Weltanschauungen im wahrsten Sinne des Wortes nebeneinanderstehen und in den Dialog treten. Gemeinsam war ihnen nur, dass es sich um Außenseiterpositionen handelte. Diese Selbstwahrnehmung, nicht etablierte Positionen zu vertreten, schweißte Leser_innen und Autor_innen der Zeitschriften zusammen.
Die Serie #forschungsgegenstand
Mit welchen konkreten Gegenständen beschäftigen sich Forschende? In der Reihe „#forschungsgegenstand“ stellen wir einige von ihnen vor.
Bisher erschienen:
Guten Tag Herr Hannemann, ich beabsichtige ein Lexikon der esoterisch-spirituellen Zeitschriften ab ca. 1890 zu verfassen. Da gibt es bei uns zweifellos eine große Schnittmenge. Gerne würde ich mich mit Ihnen persönlich austauschen. Schreiben Sie mir bitte an dr.matzigkeit@gmail.com. Mit freundlichen Grüßen Michael Matzigkeit