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Die entscheidenden Zehntelsekunden im Handball

TLDR:

Wo geht der Ball hin, wenn eine Angreiferin oder ein Angreifer aufs Tor wirft? Das müssen Torhüter_innen frühzeitig voraussehen – gerade für Nachwuchssportler_innen eine Herausforderung. Welche Torsituationen besonders heikel sind und inwiefern sich Antizipationsfähigkeit trainieren lässt, untersucht Kim Huesmann, Doktorandin an der Uni Oldenburg. Dabei arbeitet sie eng mit dem Deutschen Handballbund e.V. zusammen.

Lesedauer: 3:00 min Kategorie: Sportwissenschaft Datum: 21. Januar 2022

Je jünger die Athlet_innen, desto besser? Bei vielen Sportarten mag diese Faustregel stimmen, bei Ballsportarten trifft sie aber nur bedingt zu. „Untersuchungen zeigen, dass erfahrene Torhüter_innen im Vergleich zu ihren weniger erfahrenen Konkurrent_innen Wurfrichtungen ihrer Gegner_innen besser vorhersagen können“, sagt Kim Huesmann, Doktorandin am Institut für Sportwissenschaft der Universität Oldenburg. Wenn Nachwuchstorhüter_innen in die Nationalmannschaft wechseln, können sie daher dort häufig nicht an die Leistungen ihrer erfahreneren Vorgänger_innen anknüpfen.

Dieses Problem treibt nicht nur Huesmann, sondern auch Trainer_innen im Deutschen Handballbund (DHB) um. Daher kooperieren sie in einem gemeinsamen Forschungsprojekt: Der DHB liefert Huesmann Aufzeichnungen von Spielen der deutschen Männer-Nationalmannschaft. Gemeinsam mit Prof. Dr. Jörg Schorer, Prof. Dr. Dirk Büsch und PD Dr. Florian Loffing analysiert Huesmann die Videos und entwickelt eine Diagnostik der Antizipationsleistung sowie ein videobasiertes Trainingsprogramm, mit dem anschließend unterschiedlich erfahrene Torhüter_innen trainieren können.

Abwehr noch vor dem Angriff

Ein Blick auf die Zahlen verrät, mit welchen Herausforderungen es Torhüter_innen zu tun haben. Bei Profisportler_innen kann der Ball Geschwindigkeiten von weit über hundert Stundenkilometern erreichen. Ein Ball, der etwa zehn Meter vor dem Tor geworfen wird, ist nur ungefähr vier Zehntelsekunden in der Luft. „Diese Zeit reicht nicht, um erst dann eine Abwehrbewegung auszuführen, also zum Beispiel sich in eine Ecke des Tores zu bewegen“, sagt Huesmann. Torhüter_innen müssen daher ihre Bewegung initiieren, bevor der Ball überhaupt abgeworfen wird.

Woran orientieren sich Torhüter_innen aber, um das Verhalten von Gegner_innen vorherzusagen? Mit dieser Frage hat sich Huesmann bereits in ihrer Bachelor- und Masterarbeit beschäftigt. Die Forschung zeigt, dass erfahrene Sportler_innen anhand der Kinematik, also am Bewegungsablauf ihrer Gegner_innen, erkennen können, wohin sie werfen – wie ist ihre Beinstellung, ihre Armhaltung, wo befindet sich der Ball kurz vor dem Abwurf? „Wichtig für die Antizipation sind neben den kinematischen Informationen beispielsweise auch die Feldposition oder das Wissen um die Handlungspräferenzen einzelner Gegner_innen“, sagt Huesmann. Diese sogenannten „kontextbezogenen Informationen“ nimmt sie in ihrer Forschung in den Blick.

Für ihre Doktorarbeit analysiert Kim Huesmann Videos von Spielen der deutschen Männer-Nationalmannschaft.
Foto: Kim Huesmann

Trainieren vor dem Bildschirm

Offenbar können erfahrene Sportler_innen kinematische und kontextbezogene Informationen besser auswerten als weniger erfahrene Sportler_innen. Doch sowohl erfahrene als auch weniger erfahrene Sportler_innen können ihre Antizipation durch geeignete Trainingsmethoden verbessern – das legen frühere Untersuchungen mit Videotrainings nahe. Darin zeigten Forschende den Sportler_innen beispielsweise Spielszenen, die vor dem Ballabwurf abgebrochen werden. Die Proband_innen mussten anschließend den Punkt markieren, an dem ihrer Auffassung nach der Ball auf das Tor treffen wird. Dabei zeigte sich, dass ein videobasiertes Antizipationstraining die Antizipation vom Vor- zum Nach-Test verbessern kann. Forschende konnten außerdem herausfinden, dass Sportler_innen ihre Voraussagefähigkeit zusätzlich verbesserten, wenn sie über einen längeren Zeitraum mit Videos in einer erhöhten Wiedergabegeschwindigkeit trainierten.

Allerdings konfrontierten die bisherigen Untersuchungen Sportler_innen vor allem mit Standardsituationen, etwa Elfmeterschüssen im Fußball oder Siebenmeterwürfen im Handball. Huesmann hingegen arbeitet mit Videoszenen von nicht standardisierten Rückraumwürfen aus Spielen der deutschen Herren-Nationalmannschaft. Aus den zur Verfügung gestellten Spielaufzeichnungen schneidet Huesmann Szenen mit Rückraumwürfen heraus. Darunter versteht man Torwürfe, die aus einer Distanz von ca. neun bis zehn Metern und oftmals aus dem Sprung heraus auf das Tor gerichtet werden.

Angriff in neun Konstellationen

Bei den Analysen interessieren sich die Forschenden vor allem dafür, wie gut die Torhüter_innen mit verschiedenen Spielkonstellationen umgehen können. Macht es einen Unterschied, ob die angreifenden Spieler_innen links, rechts oder mittig stehen? Und wie entscheidend ist es, ob der Angriff von einer oder zwei Personen geblockt wird – oder gar nicht? „Wir haben also sowohl für die Angreifer_innenposition als auch für die Zahl der blockenden Spieler_innen jeweils drei Optionen, sodass wir insgesamt neun mögliche Konstellationen unterscheiden können“, sagt Huesmann. Für jede von ihnen analysiert sie, wie gut die Torhüter_innen die Wurfrichtung antizipieren und den Ball halten. „Allein diese Daten können dem DHB helfen, kritische Torsituationen zu identifizieren und Torhüter_innen auf diese Situationen einzustellen.“

Doch Huesmanns Forschung hört an diesem Punkt nicht auf. Um herauszufinden, wie unterschiedlich erfahrene Torhüter_innen Torwürfe voraussehen können, wird sie in einem weiteren Projektabschnitt auf der einen Seite Elite-Torhüter_innen des Deutschen Handballbundes, auf der anderen Seite vielversprechende Nachwuchstorhüter_innen mit den Szenen konfrontieren. Die Teilnehmer_innen haben die Aufgabe, sich jede per Video vorgespielte Szene genau anzuschauen und unmittelbar im Anschluss daran jeweils vorherzusagen, wie der zuvor gezeigte Torwurf ausgehen wird – ob der Ball beispielsweise in die linke oder rechte Seite des Tores fliegt. Dass die Ergebnisse der beiden Gruppen sich unterscheiden werden, liegt auf der Hand – wie genau der Unterschied aber ausfallen wird, ist auch deshalb interessant, weil Antizipation von Profisportler_innen im direkten Vergleich zu Nachwuchssportler_innen bisher kaum untersucht worden ist.

Das Sechs-Wochen-Trainingsprogramm

Anschließend entwickelt Huesmann ein Trainingsprogramm: Nationaltorhüter_innen der Nachwuchskader sollen über einen Zeitraum von sechs Wochen zweimal in der Woche mit den Videos trainieren. Die Proband_innen werden eng von Huesmann begleitet: Vor, während und nach der Trainingsphase testet sie, inwiefern sich die Antizipationsleistung der Torhüter_innen verbessert hat. Die Ergebnisse vergleicht sie mit denen einer Vergleichsgruppe, die nicht mit den Videos trainiert.

Voraussichtlich im März sollen die Testungen starten. Davor haben Huesmann und ihre Kolleg_innen noch viel damit zu tun, die entsprechenden Videos zu analysieren und aufzubereiten. Ob sie in ihrer Freizeit auch auf dem Handballfeld steht? „Während meines Studiums habe ich viele Sportarten ausprobiert, auch Handball“, sagt Huesmann. „Am liebsten spiele ich aber Tennis.“

 

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