Ob in der Schule, bei den Hausaufgaben, zum Austausch mit Freund_innen oder Spielen: Digitale Medien gehören für die meisten Kinder und Jugendlichen zum Alltag. Doch über die Funktionsweise von Smartphones und Tablets oder den Aufbau des Internets wissen sie oft nur wenig. Ändern könnte sich das durch mehr Informatikunterricht an den Schulen. Während dieser lange ein Schattendasein fristete, führen inzwischen immer mehr Bundesländer Informatik als Pflichtfach ein.
Ira Diethelm, Professorin für die Didaktik der Informatik an der Universität Oldenburg, begrüßt diese Entwicklung. Doch sie gibt auch zu bedenken, dass nur an wenigen Universitäten ein Lehramtsstudium in Informatik möglich ist. Die Folge: Viele Lehrkräfte unterrichten fachfremd und müssen sich Unterrichtsinhalte und -methoden selbstständig aneignen.
Unterrichtshilfen zum freien Runterladen
Besonders diese fachfremden Lehrkräfte hatte Diethelm vor Augen, als sie 2014 mit dem Projekt „IT2School – Gemeinsam IT entdecken“ begann. Finanziert und initiiert wurde das Projekt von der Wissensfabrik – Unternehmen für Deutschland e.V., einem Verein von heute etwa 130 Unternehmen, die sich für umfassenderen Unterricht in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) einsetzen. Mit dem Ziel, diesen Unterricht anschaulicher und praxisnäher zu gestalten, hatte die Wissensfabrik zuvor schon andere Unterrichtsmaterialien konzipiert. IT2School wurde nicht nur das erste Projekt zum Informatikunterricht, sondern auch das erste, dessen Ergebnisse als Open Educational Resources (OERs) online für alle frei verfügbar sind. Lehrkräfte können sie als Word- oder PDF-Dokumente herunterladen und bei Bedarf selbst anpassen. „So wollen wir möglichst viele Lehrkräfte erreichen und ihnen das Arbeiten mit den Materialien leicht machen“, erläutert Diethelm.

Foto: Wissensfabrik
Die Unterrichtsmodule: vom Internetmodell bis zum Minicomputer
Zwanzig Unterrichtsmodule sind bisher entstanden, neue kommen laufend hinzu. Sie behandeln so unterschiedliche Themen wie das Programmieren, 3D-Druck oder Robotik. Jedes Modul enthält Materialien für mehrere Unterrichtsstunden: didaktische Konzepte und Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung für die Lehrkräfte, Arbeitsblätter für die Schüler_innen. Für manche Module brauchen die Schulklassen zusätzliche Materialien, etwa den Minicomputer „Calliope“, mit dem sich das Programmieren leicht erlernen lässt. Doch Diethelm achtete auch darauf, den Einstieg so einfach wie möglich zu machen. Unter anderem ist im Projekt ein Spiel aus Pappe zur Funktionsweise des Internets enthalten oder ein Unterrichtsmodul, in dem die Schüler_innen durch Blinzeln oder Armbewegungen miteinander kommunizieren. „Geheimsprachen können für die Schüler_innen ein guter Startpunkt sein, um zu verstehen, wie Verschlüsselung in der Informatik funktioniert“, sagt Diethelm. „Außerdem lassen sich die Unterrichtseinheiten für die Lehrkräfte ohne großen Aufwand vorbereiten.“ Um die Module zu entwickeln, griffen Diethelm und ihr Team auf Erkenntnisse der Lehr-Lern-Forschung und eigene Forschungsergebnisse zurück: So hatten sie etwa untersucht, wie Informatiklehrkräfte ihren Unterricht planen oder welche Vorstellungen Schüler_innen vom Internet haben.
An mehr als 250 Schulen bundesweit sind die Materialien bisher genutzt worden. Ob Informatik ein Pflichtfach ist oder nicht und welche Inhalte die Lehrpläne vorsehen, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland. Deshalb orientierten sich Diethelm und ihr Team nicht an einem bestimmten Lehrplan. Stattdessen konzentrierten sie sich auf drei Grundprinzipien der Informatik, die in den meisten Lehrplänen vorkommen: Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung. Darunter versteht man die Verfahren, mit denen Information in unterschiedlichen Systemen dargestellt und gespeichert, verarbeitet und transportiert wird.

Foto: Wissensfabrik/Kellner
Unterricht für den Abendbrottisch
Zur Attraktivität und Verbreitung der Materialen tauschte Diethelm sich intensiv mit den Vertreter_innen der Wissensfabrik aus. „Wir haben uns gefragt: Was könnte die Schüler*innen so inspirieren, dass sie abends in ihren Familien davon erzählen?“, sagt Diethelm. Sie und das Team der Wissensfabrik setzen auf handfeste Ergebnisse, die die Kinder und Jugendlichen anderen zum Beispiel beim Schulfest präsentieren können. So konzipierten sie zum Beispiel eine Lerneinheit, in der Schüler*innen mithilfe eines 3D-Druckers Blumen oder Stiftehalter herstellen. „Unser Ziel ist, dass die Jugendlichen IT-Prozesse selbst kreativ mitgestalten und etwas produzieren, auf das sie stolz sind“, erklärt Diethelm.
Dass Schüler_innen die Funktionsweise von Computern und Internet verstehen und Grundkenntnisse im Programmieren lernen, bezeichnet sie als Kulturtechnik, vergleichbar mit Lesen, Schreiben oder Rechnen. Und ebenso, wie der Deutschunterricht nicht mit dem Lesenlernen aufhört, muss es aus ihrer Sicht im Informatikunterricht um mehr gehen als die bloße Anwendung von Computerprogrammen oder Verhaltensregeln im Netz. Grundlagenwissen aus der Informatik brauche man nicht nur, um die Funktionsweise von Suchmaschinen oder Datenschutzhinweise verstehen, sondern auch, um sich über politische Fragen wie die Einführung von Uploadfiltern, Einschränkungen der Netzneutralität oder die Vorratsdatenspeicherung ein Bild zu machen. Nur was man versteht, kann man auch beurteilen, ist Diethelm überzeugt. Deshalb sei der Informatikunterricht vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen so wichtig. „Man stelle sich vor, wir müssten die Klimadebatte führen, ohne dass die Menschen Geografie- oder Chemieunterricht in der Schule hätten.“
Corona habe hier zu einem Umdenken geführt, beobachtet Diethelm – nicht nur in Bezug auf die technische Ausstattung von Schulen, sondern auch auf den Stellenwert des Informatikunterrichts. So erinnert sie sich an eine Fortbildung für Lehrkräfte, die sie zu Beginn der Pandemie gab. Der Zeitpunkt – Gründonnerstag um 19 Uhr – war alles andere als ideal. Trotzdem nahmen über 1.000 Personen an der Online-Veranstaltung teil. „Digitalisierung und Informatik als Unterrichtsfach waren schon vor der Pandemie wichtige Themen. Aber es ist ein großer Entwicklungsschub dadurch entstanden, dass sich alle gleichzeitig intensiv damit auseinandersetzen mussten“, resümiert sie.