Die Kinder sind zu laut, die Hecke ist zu hoch, es wird zu viel gegrillt – was eine Person zu einem schlechten Nachbarn macht, ist für viele leicht zu sagen. Umgekehrt ist die Sache schon schwieriger: Was ist eigentlich gute Nachbarschaft? Wären die perfekten Nachbar_innen Menschen, mit denen man sich regelmäßig auf ein Glas Bier oder Wein trifft? Würde man sich ein Auto teilen oder eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach? Oder sind die besten Nachbar_innen die, die einen einfach in Ruhe lassen?
Für viele mögen diese Fragen sehr theoretisch klingen – schließlich kann man sich seine Nachbar_innen nicht aussuchen. Anders sieht es aus, wenn ein neues Wohnquartier entsteht, mit neuen Möglichkeiten, Nachbarschaft zu gestalten – wie zum Beispiel im Oldenburger Quartier Helleheide. Auf einem vier Hektar großen Gelände auf dem Fliegerhorst soll die Wohnungsbaugesellschaft GSG OLDENBURG bis Ende 2024 etwa 230 Wohnungen errichten. Die neue Siedlung soll mehr als ein reines Bauprojekt sein: Im Projekt „Energetisches Nachbarschaftsquartier Fliegerhorst Oldenburg“, kurz ENaQ, entwickeln 21 Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft Ideen, wie Nachbarschaft heute aussehen kann. Das Quartier Helleheide dient also als Reallabor: Hier sollen Ansätze und Ideen entwickelt werden, die sich später auf andere Siedlungen übertragen lassen können.
Miteinander teilen – ob Energie oder Fahrräder
Auch eine Gruppe von Forschenden der Universität Oldenburg unter der Leitung von Bernd Siebenhüner, Professor für Ökologische Ökonomie, ist an ENaQ beteiligt. Gemeinsam mit anderen Partnern, unter anderem der Stadt Oldenburg und dem Energiecluster OLEC, forschen sie zum Thema Bürgerbeteiligung. Dabei entwickeln die Projektpartner unter anderem ein Energiekonzept, das möglichst viele lokale Energiequellen wie etwa Solaranlagen vorsieht. Hierbei soll es für die Bewohner_innen möglich sein, ihr Verhalten an die verfügbaren Energiemengen anzupassen – also zum Beispiel ihre Wäsche dann zu waschen, wenn gerade viel Energie erzeugt wird.
Daneben untersuchen die Forschenden der Universität sowie die anderen Projektpartner auch, wie das gemeinschaftliche Leben im Quartier aussehen soll. „Wir wollen zum Beispiel herausfinden, ob Menschen sich eher persönlich oder digital mit Menschen in ihrer Nachbarschaft vernetzen und treffen wollen oder ob sie sich vorstellen könnten, Dinge wie Werkzeuge oder Fahrräder mit anderen zu teilen“, erläutert Alexandra Unger, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt.
Hierfür konzipierte sie mit ihren Kolleg_innen eine Online-Umfrage, an der sich etwa 300 Personen beteiligten. Knapp die Hälfte von ihnen hätte Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein – ein Aspekt, der für Unger und ihr Team besonders wichtig ist. Denn im Quartier Helleheide soll es Wohnungen für alle Einkommensgruppen geben: Etwa die Hälfte von ihnen entsteht im Rahmen des geförderten Wohnungsbaus. „Idealerweise sind die Teilnehmenden der Online-Umfrage den späteren Bewohner_innen möglichst ähnlich, damit die Ergebnisse übertragbar sind“, sagt Unger.

Foto: EWE
Umfrage: Grillecke schlägt Onlineportal
Wie stellten sich die Befragten gute Nachbarschaft vor? Folgendes fanden die Forschenden heraus:
- Die meisten Teilnehmenden waren bereit, Dinge mit anderen in ihrer Nachbarschaft zu teilen: Über 80 Prozent konnten sich das bei Werkzeugen wie Bohrern oder Luftpumpen vorstellen. Geringer war die Bereitschaft beim eigenen Fahrrad oder Auto: Hier würden nur etwa 20 (Fahrrad) bzw. 30 Prozent (Autos) mit den Nachbar_innen teilen.
- Über 70 Prozent der Befragten gaben an, sich momentan vor allem durch persönliches Vorbeischauen in der Nachbarschaft auszutauschen. 58 Prozent benutzen Gruppen in Kurznachrichtendiensten wie Whatsapp, 52 das Telefon.
- Dass persönliche Treffen wichtig sind, zeigte sich auch an anderer Stelle: Gefragt, was gutes Miteinander in einer Nachbarschaft ermöglicht, nannten 80 Prozent Bereiche für gemeinsame Aktivitäten wie Grünflächen oder Grillecken. Nur etwa 10 Prozent hielten Onlineportale für geeignet.
Eines ist damit klar: Die meisten Teilnehmenden der Studie brachten Nachbarschaft eher mit direkten Begegnungen als mit digitaler Vernetzung in Verbindung – und das, obwohl mehr als 40 Prozent von ihnen zwischen 20 und 29 Jahre alt waren. Auch Unger resümiert: „Digitale Kontakte können reale Begegnungen zwar ergänzen, aber nicht ersetzen.“

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Selbst mitmachen in der Bürger:innenwerkstatt
Das erlebten sie und ihr Team auch, als sie neben der Online-Umfrage noch andere Möglichkeiten suchten, um mit Bürger_innen über gute Nachbarschaft zu sprechen. Viele Angebote, unter anderem Veranstaltungen mit einem ScienceTruck in der Oldenburger Innenstadt, mussten wegen der Corona-Pandemie ausfallen. Andere wurden ins Digitale verlagert, etwa eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Gute Nachbarschaft gestalten – aber wie?“, die nach wie vor bei Youtube verfügbar ist: www.youtube.com/watch?v=ZrsQT_EaxEw
Auch für die Zukunft planen Unger und ihr Team zusammen mit den anderen Projektpartnern unterschiedliche Angebote, um Bürger_innen an der Entwicklung des Quartiers Helleheide zu beteiligen. So können Interessierte der „Bürger:innenwerkstatt“ beitreten: Hier treffen sich in regelmäßigen Abständen Personen, die sich vorstellen könnten, im Quartier Helleheide zu wohnen. Aufgrund von Corona hat die Initiative ihr digitales Angebot ausgebaut: Unter werkstatt.enaq-fliegerhorst.de können alle, die Interesse haben, Vorschläge für Quartiersgestaltung einbringen. Wer über das Projekt auf dem Laufenden bleiben möchte, kann außerdem unter www.helleheide.de einen Newsletter abonnieren.
Auch vor Ort konnte man sich bereits ein Bild machen: Das Projekt bot Rundgänge auf dem Gebiet des Fliegerhorsts an. Unger hofft, dass dies auch im Frühjahr 2021 wieder möglich sein wird, denn das Interesse ist groß: „Die letzte Führung war in kurzer Zeit ausgebucht.“
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