Die Idee, dass es Menschenrassen gibt und zwischen diesen eine Hierarchie besteht, ist widerlegt. Doch die Ideologie des Nationalsozialismus baute unter anderem auf dieser Vorstellung auf. Sie bildete die Grundlage für den Holocaust, Deportationen, Zwangssterilisierungen und Zwangsabtreibungen. Unterstützung hierfür kam seinerzeit auch von den Universitäten: Seit dem frühen 20. Jahrhundert hatte sich in Europa die Rassenanthropologie etabliert, die die Vorstellung von einer Hierarchie menschlicher Rassen untermauern sollte.
Die Geschichte der Rassenanthropologie ist einer der Forschungsschwerpunkte von Thomas Etzemüller, Professor für Kulturgeschichte der Moderne an der Universität Oldenburg. „Nicht zuletzt die Humangenetik hat dazu beigetragen, das Konzept von Menschenrassen zu widerlegen“, sagt er. Aber schon davor stand es auf sehr tönernen Füßen. Mit der Absicht, Menschenrassen wissenschaftlich zu erfassen, vermaßen die Rassenanthropologen mit speziellen Instrumenten Schädelformen und Gesichtsabstände, bestimmten mit Farbtafeln Augenfarben. „Immer wieder berichteten sie von der Schwierigkeit, auf der Grundlage ihrer Messdaten ihre Annahmen zu belegen“, erläutert Etzemüller. Doch ihrer Arbeit tat das keinen Abbruch: Um zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen, interpretierten sie Daten um oder deklarierten sie als Messfehler.

Foto: Rudolf Martin, Lehrbuch der Anthropologie in systematischer Darstellung: mit besonderer Berücksichtigung der anthropologischen Methoden; für Studierende, Ärzte und Forschungsreisende, Jena 1914, S. 188.
Zwischen Quellen und Roman: die Dokufiktion
Wie kam es dazu, dass die Rassenanthropologie trotz dieser offensichtlichen Widersprüche bis in die 1960er Jahre an den Universitäten präsent blieb? Das ist eine der Fragen, zu denen Etzemüller forscht. Zahlreiche Bücher und Aufsätze hat er schon über das Thema geschrieben. Im vergangenen Jahr kam ein neues dazu: „Das deutsche Schicksal. Erinnerungen eines Rassenanthropologen“. In dem Buch verbindet Etzemüller historische Quellen und eigene Texte zu einer fiktiven Autobiographie. Ausgehend vom Jahr 1968 blickt der Rassenanthropologe Henning von Rittersdorf auf sein Leben zurück. Geboren 1872, beginnt er nach seinem Medizinstudium, sich für die Rassenanthropologie zu interessieren. Erst arbeitet er als Gehilfe seines Lehrers. Schließlich wird er mit Unterstützung der NSDAP Professor für Rassenanthropologie an der Universität Jena. Nach dem Krieg setzt er seine Arbeiten in der Rassenanthropologie fort.
Das fertige Werk bezeichnet Etzemüller als „Dokufiktion“. Mit der fiktiven Autobiographie möchte er die Geschichte der Rassenanthropologie greifbar machen. „Abstrakte historische Fakten, Entwicklungen oder Zahlen werden konkreter, wenn sie sich im Leben einer Person spiegeln“, sagt er. Vielen falle es leichter, sich über Biographien einem historischen Thema zu nähern. Dies erkläre den Erfolg von Dokumentationen wie beispielsweise dem Doku-Drama „Speer und er“, das das Verhältnis zwischen Albert Speer und Adolf Hitler beleuchtet.
Eine Biographie hätte Etzemüller auch über einen realen Rassenanthropologen schreiben können. Doch er entschied sich bewusst dafür, historische Quellen und Fiktion miteinander zu verbinden. „Während des Schreibens habe ich gemerkt, dass sich viele der historischen Quellen erstaunlich gut in ein fiktionales Werk einbinden lassen“, erläutert er. „Nicht nur die theoretischen Grundlagen, auch die Methoden der Rassenanthropologie können aus heutiger Sicht bizarr oder sogar fiktiv wirken.“
Historische Vorlagen, fiktionale Verarbeitung
Beispiele dafür finden sich in dem Buch viele – etwa eine Reise des jungen von Rittersdorf ins Sauerland. Dort soll er die anatomischen und intellektuellen Unterschiede zwischen den Militärrekruten zweier Dörfer untersuchen, die nur etwa hundert Kilometer voneinander entfernt liegen. Später, in den 1960er Jahren, stellt von Rittersdorf einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er möchte die „Verostung“, den „rassischen Zerfall“ der Menschen in der DDR untersuchen. Da ein Aufenthalt dort nicht möglich ist, schlägt er vor, anatomische Merkmale wie die Körpergröße, die Armlänge oder den Kopfumfang, aber auch die Augen- und Haarfarbe anhand von Schwarzweißfotos zu rekonstruieren.
Ob es diese Untersuchungen so oder so ähnlich gegeben hat, erfahren die Leser_innen erst im Nachwort. Dort nennt Etzemüller die historischen Vorlagen für beide Szenen: Von Rittersdorfs Untersuchungen im Sauerland basieren auf Arbeiten des Rassenanthropologen Otto Ammon. Er untersuchte Ende des 19. Jahrhunderts etwa 13.000 badische Rekruten, zwischen denen er zwei Unterrassen ausmachen wollte: die „Baar“- und die „Schwarzwald-Gruppe“. Auch für von Rittersdorfs DFG-Antrag gibt es eine historische Grundlage: ein Projekt der Anthropologin Ilse Schwidetzky aus den 1950er und 1960er Jahren. Auf der Suche nach einem „besonderen anthropologischen Typus“ in Westfalen untersuchte sie Personen vor Ort, bestimmte aber auch Lippenformen anhand von Schwarzweißfotos.

Foto: Museum der Universität Tübingen MUT | V. Marquardt
Rassismus und Hass unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit
Indem er zunächst nicht kenntlich macht, welche Passagen aus historischen Quellen übernommen und welche frei erfunden sind, möchte Etzemüller seine Leser_innen zum Nachdenken anregen: Welche Weltanschauungen und Weltbilder gab es damals und gibt es heute, die unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit Rassismus und Hass propagieren?
In den 1970er Jahren verlor die Rassenanthropologie nicht nur an Aufmerksamkeit, sondern auch an finanzieller Förderung. Stattdessen setzte sich die Humangenetik durch – und die Erkenntnis, dass es keine klar voneinander trennbaren Rassen gibt. Die Idee, Menschen anhand ihres Äußeren klassifizieren zu können, ist dennoch weiterhin präsent. „Damals wie heute bietet sie einfache Lösungen für komplexe Probleme“, sagte Etzemüller. „Die Versuche, menschenverachtende Weltanschauungen durch vermeintlich wissenschaftliche Erkenntnisse zu legitimieren, sind weiterhin präsent.“